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Vergessen will gelernt sein LSWI

Vergessen will gelernt sein

Wer etwas Neues machen will, muss das Alte manchmal hinter sich lassen. Forscher aus Bochum untersuchen, wie die Mechanismen des Vergessens in der Arbeitswelt nutzbar gemacht werden können. Dafür nutzen sie das an der Universität Potsdam entwickelte Forschungs- und Anwendungszentrum Industrie 4.0 („Zentrum Industrie 4.0“).

Es ist ein Szenario, das so oder so ähnlich wohl jeden Tag in Fabriken und Unternehmen geschieht: An der Produktionsstrecke ist eine neue Maschine installiert. Die Menschen, die hier arbeiten, müssen sich umstellen, neue Handgriffe und Abläufe erlernen und – möglichst fehlerfrei – anwenden. Ob am Fließband oder am Computer – auch und gerade im Zuge der Digitalisierung ändert sich der Arbeitsalltag vieler Menschen enorm.

An der Ruhr-Universität Bochum stellen Forscherinnen und Forscher der Wirtschaftspsychologie solche Situationen experimentell nach und imitieren dafür im „Zentrum Industrie 4.0“ die Produktionsstrecke einer Fabrik. In dieser Lernfabrik schlüpfen Probanden regelmäßig in die Rolle von Arbeiterinnen und Arbeitern, die in genau festgelegten Arbeitsabläufen Knieprothesen herstellen sollen. Das Verblüffende: Die Umgebung ist so realistisch, dass die Teilnehmer sich nicht selten in einer echten Fabrik und als Teil eines realen Produktionsprozesses wähnen.

Dennoch ist die Strecke, die ursprünglich von Wirtschaftsinformatikern an der Universität Potsdam entwickelt wurde und die mit Roboterarm, Fließband und digital bedienbaren Geräten ausgestattet ist, eine Illusion und ein Werkzeug der Wissenschaft. Die Probanden werden genau beobachtet, während sie in Kitteln und mit Schutzbrillen ausgestattet Lieferzettel ausfüllen, verschiedene Maschinen über Touchscreens bedienen oder ihre gerade gefertigten Produkte ausmessen, die als Simulation auf einem Display erscheinen. In dem rund einstündigen Versuch werden jeder Handgriff, jede Augenbewegung und jedes Wort erfasst und analysiert.

Die Versuche hier sind Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Schwerpunktprogramms „Intentional Forgetting in Organisationen“, an dem 13 Universitäten beteiligt sind. Acht Forschungstandems untersuchen aus ihren jeweiligen Fachperspektiven ganz unterschiedliche Aspekte des menschlichen Vergessens. Die Forschungsteams um die Wirtschaftspsychologin Prof. Dr. Annette Kluge von der Ruhr-Universität Bochum und dem Wirtschaftsinformatiker Prof. Dr.-Ing. Norbert Gronau von der Universität Potsdam bilden ein solches Forschungstandem. Gemeinsam erforschen sie, wie Veränderungen im Arbeitsalltag erfolgreich gemeistert werden können und welche Rolle das Vergessen von Arbeitsroutinen und Gewohnheiten dabei spielt.

„Vergessen wird allgemein gesellschaftlich eher negativ bewertet“, erklärt der Wirtschaftspsychologe Arnulf Schüffler, der die Experimente in Bochum betreut." Aus der psychologischen Perspektive ist Vergessen aber genauso wichtig wie Lernen.“ Wer sein Verhalten verändern möchte, muss nicht nur das Neue erlernen, sondern das Alte auch vergessen. Das Problem dabei: Sobald ein oder mehrere Hinweisreize auf jemanden einwirken, wird das erlernte Routineverhalten aktiviert. Das Gehirn schaltet auf Autopilot. Gegenstände, Orte, Zeiten oder Personen – all das können Hinweisreize sein, die ein bestimmtes erlerntes Verhalten auslösen. Die Forscher verändern gezielt diese Hinweisreize um zu ermitteln, welche davon besonders großen Einfluss darauf haben, ob die Menschen in alte Routinen zurückfallen.

In den Gedächtnisexperimenten der simulierten Produktionsstrecke geht es für die Probanden zunächst darum, so schnell und fehlerfrei wie möglich zu produzieren. Dafür gibt es viele detaillierte Anweisungen, die jeder der Teilnehmenden so genau wie möglich erfüllen soll. Beim zweiten Termin einige Wochen später erfahren die Probanden aber, dass sich der Eigentümer ihres Unternehmens geändert hat. Plötzlich gelten ganz andere Vorgaben und Qualitätsstandards. Die erlernte Arbeitsroutine ist nun hinfällig.

Für die Forschenden wird es jetzt spannend. Wie reagieren Menschen auf Veränderungen von Produktionsroutinen, wie sie etwa täglich auch durch Digitalisierung in der realen Arbeitswelt geschehen? Wie groß ist der Fehler, der auftritt, weil die Probanden alte Routinen nicht vergessen können? Die Experten bezeichnen diese Größe als intentionalen Vergessensfehler. „Das ist die Maßzahl, um die es uns in allen Experimenten geht“, betont Arnulf Schüffler.

Die nachgestellte Produktionsstrecke bietet den Psychologinnen und Psychologen dabei einzigartige Möglichkeiten, ihre Forschungsfragen zu untersuchen. „Mit dem Anwendungszentrum können wir Industrieprozesse realitätsnah ablaufen lassen und gleichzeitig mit den exakten Methoden eines Labors erfassen“, erklärt Arnulf Schüffler. „Deshalb ist die Anlage für uns auch als Forschungsinstrument sehr interessant.“ Dass sich die Probanden frei bewegen können und zeitgleich jegliches Verhalten bis hin zu Blickbewegungen und menschlichen Interaktionen erhoben werden, ermöglicht den Forschenden tiefe und ganzheitliche Einblicke in den gesamten Produktionsprozess, ohne dass weitere, aufwändige Experimente nötig werden.

Die Bochumer Forscher identifizieren nun anhand der Daten jene Faktoren und Hinweisreize, die mit besonders geringen oder besonders hohen Fehlerquoten verknüpft waren. Ist der Vergessensfehler niedrig, konnten sich die Versuchsteilnehmer gut an die veränderten Vorgaben und Bedingungen anpassen. Umgekehrt ist der Fehler besonders hoch, wenn die Probanden sich schlecht auf die veränderten Vorgaben einlassen können – etwa, weil der Autopilot im Gehirn alte Routinen abspielt.

Derzeit werten die Forscher noch die Ergebnisse der Experimente aus. „Wir sehen aber jetzt schon, dass unsere Methode funktioniert“, freut sich Arnulf Schüffler. „Wir können intentionales Vergessen tatsächlich messen.“ Die Daten zeigen auch, dass beispielsweise ein verändertes Team den Vergessensfehler steigen lässt. Das ist für die Praxis höchst relevant: Wer sich auf geänderte Produktionsabläufe einstellen muss, sollte nicht gleichzeitig mit unbekannten Kollegen konfrontiert werden. „Die neu zusammengestellten Teams sind zusätzlich verunsichert, haben wesentlich längere Produktionszeiten und machen mehr Fehler“, fasst Schüffler zusammen. Außerdem vergesse diese Testgruppe besonders schlecht die alten Verhaltensroutinen.

Das Schwerpunktprogramm wird nun in die zweite Phase eintreten, in der die Forschenden die Labore verlassen und in die Fabriken gehen. Unter Praxisbedingungen sollen die Forschungsergebnisse angewandt und Veränderungen in der Produktion bewusst gestaltet werden. „Die Industrie ist an einigen Stellen schon auf uns aufmerksam geworden“, sagt Arnulf Schüffler. „Es passiert gerade jede Menge, die Dynamik in den Unternehmen ist groß.“ In den kommenden Jahren dürfte sich dieser Trend noch verstärken. Denn die Digitalisierung hat gerade erst begonnen.

© Heike Kampe